14.02.2017

Buchempfehlung: "Auch wir sind Deutschland: Ohne uns geht nicht. Ohne euch auch nicht." von Anis Mohamed Youssef Ferchichi & Marcus Staiger (mit generellen Infos im Artikel)



261 Seiten

Klappentext:

Anis Mohamed Youssef Ferchichi, der den meisten Menschen unter seinem Rappernamen Bushido bekannt ist, beschreibt in diesem Buch anhand von persönlichen Beobachtungen und Erinnerungen das Leben von Menschen mit Migrationshintergrund in Deutschland, die noch immer als Ausländer wahrgenommen werden, obwohl sie zum Teil bereits in dritter Generation hier leben.

Ferchichi weiß, was es heißt, in einem reinen Ausländerviertel mit eingeschränkten Perspektiven groß zu werden. Er berichtet aus seiner eigenen Jugend und beschäftigt sich mit der Frage, warum so viele Kinder aus der Unterschicht das Interesse an der Schule verlieren, warum die »Ausländer« immer nur in Gruppen anzutreffen sind, wie arabische Frauen ihre eigene Stellung innerhalb der Gesellschaft behaupten und was wirklich in den orientalischen Cafés passiert, jenen geheimnisvollen Orten, an denen anscheinend Selbstjustiz geübt wird und die als Sinnbild der Parallelkultur schlechthin gelten.

Ferchichi greift die drängendsten Fragen der Migrationsdebatte auf und entwirft das authentische Bild eines jungen Menschen, der zwischen den Kulturen aufgewachsen ist und doch seinen Weg gemacht hat. Meinungsstark zeigt er das Bild einer neuen Generation von deutschen Staatsbürgern, die durch ihre kulturelle Vielfalt diesem Land so viel zu bieten haben, dass die Angst, Deutschland würde sich irgendwann abschaffen, vollkommen unbegründet ist. Auch er kennt die Schwierigkeiten eines multikulturellen Zusammenlebens und will sie auch gar nicht verschweigen. Trotzdem ist er sich sicher, dass dieses Land die besten Voraussetzungen dafür hat, diese Probleme zu lösen – Deutschland schafft das!


Meine Meinung:

Dass der Beruf des Gangsta-Rappers nicht sehr islamisch ist, hat Anis schon einmal zugegeben. Trotzdem ist er natürlich ein Bruder im Islam und mir ziemlich sympathisch.

Ich habe dieses Buch gekauft, um einen Einblick in die sogenannten "Parallelgesellschaften" zu bekommen, über die so viele Menschen reden, die darüber doch letztendlich genauso wenig wissen wie ich.

Ich bin zwar Muslima, aber europäisch aufgewachsen, und somit verstehe ich von manchen Themen genauso wenig wie ein Nichtmuslim. Wahrscheinlich werden mir Muslime, die keine ethnischen Europäer sind, für den Rest meines Lebens erzählen, dass ich meine Eltern nicht respektvoll genug behandle. Und wahrscheinlich werde ich für den Rest meines Lebens dann verwundert darüber nachdenken und mich fragen, weshalb denn nicht.

Es wird mich niemals interessieren, was entferntes Familienmitglied XY über mein Leben denkt. Würde mich meine Tante anschreien, würde ich zurück schreien - lauter. Obwohl ich es cool finde, wenn man viele Kinder will, finde ich es nicht schockierend wenig, wenn man "nur" zwei haben möchte. Und wenn mein Cousin Schei*e baut, würde ich ihm nicht helfen, nur weil ich mit ihm verwandt bin. Ich bin also ziemlich westeuropäisch in der Hinsicht, wobei ich natürlich zugeben muss, dass dieser verlangte Respekt gegenüber Verwandten nicht nur kulturell, sondern auch etwas islamisch ist. Wenn man aber anders aufgewachsen ist, ist es schwierig.

Nun fragt man sich: Hat dieses Buch mir geholfen, manches etwas besser zu verstehen? Ja, absolut. Natürlich kann man sich nur bedingt in andere Menschen hineinversetzen, und ich werde nie genau wissen, wie es ist, in Neukölln oder Co. aufgewachsen zu sein. Trotzdem ist es sehr hilfreich gewesen, ein Buch von jemandem zu lesen, der das wirklich persönlich kennt, und nicht nur Bürgermeister ist oder so (#gedisst). Anis kann erklären, wieso etwas so ist, wie es ist - nicht nur, dass etwas so und so ist. Hier liegt der entscheidende Unterschied zu allen anderen Büchern über das Thema Integration. Und deshalb ist "Auch wir sind Deutschland" auch so empfehlenswert.

Das Buch thematisiert nicht nur die familiären Strukturen, die Anis gleichzeitig schätzt und kritisch sieht. Es schneidet auch die neuen Lieblingsthemen der Islamhasser an:

Selbstjustiz durch Friedensrichter, Familienbanden, asoziales Verhalten von Jugendlichen und Kriminalität!

Kriminelle Leute, deren ethnische Wurzeln aus muslimisch geprägten Ländern stammen, machen mich sehr, sehr, sehr wütend. Weil sie erstens offenkundig auf die Religion ihrer Herkunft, den Islam, pfeifen, während manch einer sein ganzes Leben verliert, wenn er zum Islam konvertiert. Zweitens, weil ich ein Moralapostel bin, was das Gesetz betrifft. Und drittens, weil dumme Menschen dem Islam die Schuld geben, wenn Leute "muslimischen Aussehens" Unsinn machen, und die schlaue Botschaft verbreiten, dass Kriminelle mit Migrationshintergrund primär aus dem Grund so handeln, weil sie Muslime sind. Ähm, ja. Genau. Und Selbstjustiz wird kurzerhand zur "Scharia" deklariert. Und sexuelle Belästigungen von Männern mit dunklen Haaren und Augen sind "Sex-Jihad" und "muslimische Vergewaltigungen". (Manchmal frage ich mich, wieso ich überhaupt versuche, gegen Islamhasser zu argumentieren. Wer auf so etwas so offensichtlich falsches hinein fällt, bei dem ist doch sowieso Hopfen und Malz verloren. Kann man drauf verzichten.)

[Mehr über das Thema asoziales Verhalten gibt es hier: derperfekteislam.de - Alles, was südländisch aussehende Leute tun, ist islamisch (Kölner Silvesternacht und Co.)]

Anis verurteilt Kriminalität genauso: "Traumberuf: der Pate. Ich sehe das jeden Tag und ich verzweifel manchmal." (S. 109)

Er spricht von kriminellen Kumpeln, die jeden Tag erzählten, wie sehr sie sich ändern wollten, und dann passiert nichts. Oft haben Kriminelle genug Talent und Begabung, um legalen Berufen nachgehen zu können. Aber sie sind gefangen im Kreislauf. Ein bisschen denkt Anis, dass man manche Menschen einfach zu ihrem Glück zwingen muss. Er meint damit offenbar Schulabschlüsse oder Ausbildungen; und wenn ich so drüber nachdenke, finde ich das gar nicht mal so falsch.

Ich muss schon sagen, man liest heraus, dass manche Kriminellen einfach psychisch erkrankt sind. Es ist so gut wie unmöglich, eine 180-Grad-Wende zu machen, wenn man unter einer Depression leidet. Und immerhin ist das so schon schwer genug, wenn man erst mal drin ist. Ich denke, man sollte psychische Erkrankungen überall auf der Welt, also auch in Migranten-Gegenden enttabuisieren. Es ist keine Schande, sich helfen zu lassen. Mit passender Medikation und/oder einer Psychotherapie ist es tausend Mal einfacher, sein Leben zu ändern, es ist einfach so.

[Mehr über das Thema hier derperfekteislam.de - Buchempfehlung: "Ratgeber für Muslime bei psychischen und psychosozialen Krisen" (mit generellen Infos im Artikel)]

Anis erzählt, dass Lehrer einen sehr positiven Einfluss haben können, gibt aber zu bedenken, dass sie sowieso schon überfordert sind und zu viel zu bewerkstelligen haben. Grundsätzlich findet er das Schulsystem im Gegensatz zum Strafsystem, das er für relativ konsequent hält, allerdings zu lasch.

Über Selbstjustiz durch Friedensrichter schreibt Anis, dass es das durchaus gibt, wenn auch nicht so, wie in den Medien dargestellt. Die Gründe dafür? "Oft hindern sie auch einfach sprachliche Barrieren daran, das Rechtssystem in Anspruch zu nehmen. Das passiert weniger aus Boshaftigkeit und dem Willen heraus, diesen Staat zu zersetzen, als vielmehr aus bloßer Hilflosigkeit." (S. 186-187)

Er sieht die Probleme in diesem Konzept, denn "derjenige, der da eine Entscheidung trifft, muss ja auch die Macht haben, diese Entscheidung durchzusetzen". (S. 191) Außerdem kann man keinen Widerspruch gegen ein Urteil einlegen, und damit sind laut Anis "der Willkür und dem Missbrauch natürlich Tür und Tor geöffnet, sofern es sich bei der entscheidenden Person nicht um einen absolut integeren Menschen handelt". (S. 191) Ursachen für Streits, die der Friedensrichter klärt, sind eher banal. Viel eher warnt Anis vor Unterweltmethoden oder Methoden aus dem Rotlichtmilieu. Er ruft zum sofortigen Anzeigen auf, sobald diese in normale Geschäftswelten eindringen.

Über Blutrache und Krieg zwischen verschiedenen Familien und generell die Angewohnheit, statt der Staatsgewalt die Familienmitglieder zu Hilfe zu holen schreibt Anis: "Vielleicht macht so ein Verhalten in den Zedernwäldern des Libanon oder in der irakischen Wüste Sinn. Vielleicht muss man in Gesellschaften, in denen man sich nicht auf staatliche Institutionen verlassen kann, so handeln. Lebt man allerdings in der Bundesrepublik Deutschland und verhält sich immer noch so, dann ist da etwas schiefgegangen." (S. 206)

Tatsächlich ist es so, dass man in manchen Gegenden auf der Welt Gefahr läuft, auf offener Straße umgebracht zu werden. Und in solchen Momenten hilft einem niemand außer der Familie. Dieses Denken ist offenbar immer noch tief verwurzelt, obwohl man natürlich weiß, dass es in der Bundesrepublik anders ist. Das Traumata, das einem schreckliche Situationen eingebracht haben, schreit offenbar bei jeder Person und jeder Instanz, die es nicht kennt: "Feind!"

Besonders bei der Polizei kann man dieses Phänomen betrachten, denn in vielen Ländern sind diese korrupt und gewalttätig. Ich habe einmal einem Flüchtling im Zug die Meinung gesagt, als er ausgerastet ist. Er dachte offenbar, er kann die Fahrkarte bei dem Kontrolleur kaufen. Doch als die Kontrolleurin dann kam, und einen Polizisten, der zufällig auch im Zug war, wegen des Schwarzfahrens holte, dachte er sich nicht etwa "Och mann, da lag ich ja mal total falsch. Ich Dummi! Was solls, ich bezahle das jetzt. Oh mann, was für ein bescheuerter Tag", sondern rastete komplett aus. Im Rückblick denke ich, er hatte einfach nur Panik und Angst wegen des Polizisten.

Zurück zum Buch. Anis schneidet außerdem weiterhin die Themen Zwangsheirat und Ehrenmord an und erklärt, dass beide unislamisch sind. Auch über das Kopftuch spricht er, und über die Vorurteile, die Kopftuchträgerinnen ertragen müssen. Dass es dennoch in vielen Kulturen und der islamischen Gesellschaft die unterschiedlichsten Probleme gibt, möchte er allerdings keinesfalls leugnen. Außerdem vertritt er die Ansicht, dass sich jede Frau so kleiden können muss, wie sie will, ohne dafür als Schlampe beleidigt zu werden. Dazu passt, dass er die sexuelle Belästigung an deutschen Frauen seitens Männern mit muslimischen Migrationshintergrund stark verurteilt. Bei der schwachsinnigen Schlussfolgerung mancher Leute, nichtmuslimische Frauen seien weniger "anständig", kann er nicht anders, als an Homer Simpson zu denken.

Anis ist der Ansicht, es sollte eine Selbstverständlichkeit sein, dass man als Ausländer in der Gesellschaft akzeptiert wird, und dass man sich auch genauso verhalten sollte. Gleichzeitig rät er jedem, Deutschland zu verlassen, "wenn's ihm hier nicht gefällt." (S. 41) Er erwähnt auch, dass Deutschland ein Land ist, in dem man sehr stark unterscheidet, warum man jemanden nicht hierbehalten möchte: "Ist es, weil du ein Schwarzafrikaner bist? Ist es, weil du aus dem Libanon kommst? Oder ist es vielleicht, weil du Heroin verkaufst?" (S. 57)

Anis ist stolz, ein Deutscher zu sein und betont mehrfach im Buch, was für ein reiches kulturelles Erbe Deutschland hat. Wissenschaft, Kunst, Literatur - so vieles haben Deutsche erfunden. Wir sollten das wertschätzen, pflegen und in Ehren halten, "wobei es letztendlich egal ist, ob die Eltern des genialen Maschinenbaustudenten von der TU München aus dem Libanon und die Vorfahren des begabten deutschsprachigen Schriftstellers aus Ghana stammen - wen interessiert das noch?" (S. 160-161)

Auch interessant fand ich das Kapitel über Antisemitismus und Israel. Zuerst erklärt er, dass er bei seinem Free-Palestine-Post nicht bemerkt hat, dass dort Israel von der Landkarte radiert wurde. Dann redet er authentisch und ehrlich über das ganze Thema.

Er spricht noch so viel mehr an, wie die Schwierigkeit des sozialen Aufstiegs, Homosexualität und natürlich noch: DIE RELIGION! Er findet nämlich die Behauptung, "der fehlende Integrationswille habe etwas mit dem Islam zu tun, vollkommen absurd." (S. 232) Er kennt niemanden, "der Scheiße gebaut hat, der Verbrechen begangen hat, der auf die schiefe Bahn geraten ist, sich nicht integriert oder keinen Bock auf nichts hat, weil er ein Moslem ist. Bei keinem meiner Freunde hat die Entscheidung, ein Leben außerhalb der gesellschaftlichen Normen zu führen, auch nur das Geringste mit dem Glauben zu tun." (S. 228)

"Meiner Meinung nach hätte es eher Vorteile, wenn man den Glauben so leben würde, wie er geschrieben steht. Stattdessen sehe ich sie, wie sich wegsaufen, wie sie Drogen nehmen, schlecht über Frauen reden, rumhuren, und da hat kein einziger ein schlechtes Gewissen. Keiner kommt auf die Idee, dass Saufen Sünde sein könnte, aber wenn die Schwester einen deutschen Freund hat, dann ist es haram." (S. 230)

Wenn sich einer im Umfeld mit der Religion beschäftigt und sich an die Regeln hält, religiöser wird, usw., dann bekommt diese Person grundsätzlich sehr viel Respekt. Anis fragt sich, wieso man dann nicht auf die Idee kommt, dass man selber mal religiöser wird, wenn man das doch so toll findet?! Er sagt, dass viele es wollen, es aber immer wieder aufs neue hinauszögern, und vergleicht es mit dem Abnehmen, das viele lautstark als Ziel verkünden - es aber nie richtig durchziehen.

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